Blinde Momente


SS 2023

Studierende

Seokjin Hong


Projektbetreuung

Prof. Katharina Hinsberg


Studiengänge

Freie Kunst


Richtung

Konzeptuelle Malerei


Projekt Art

Diplom

Seokjin Hong: Blinde Momente, Diplom Freie Kunst, 2023, 7 Blätter, 2022, Alkoholmarker auf mehrschichtigem Transparentpapier, 14,8 x 21 cm

Als Nachbild bezeichnet man eine optische Wahrnehmung, die nach dem Betrachten eines Gegenstandes oder einer Lichtquelle fortdauert – selbst bei geschlossenen Augen. Sie entsteht aus einem Zusammenspiel verschiedener Komponenten des Nervensystems, die zusammengenommen den optischen Sinn bilden. Der Seheindruck dauert nur für kurze Zeit an und löst sich dann nach und nach auf. (z.B: Optisches Rauschen, Hell-Dunkel-Blitze, Muster, Bewegungen, Farben etc.)

Vor mir ein Blatt Papier.

Ich öffne meine Augen und nehme die Welt und ihre Objekte wahr. Ich schließe meine Augen: Für ein paar Sekunden verändert das Nachbild eines Objekts seine Form und schwebt hinter meinen Augenlidern. Ich beobachte seine Bewegung und versuche, seine Form zu erfassen.

Ich öffne meine Augen und zeichne anhand meiner Erinnerung die Form des Nachbildes auf Transparentpapier. Ich schließe meine Augen, um die Form noch einmal zu überprüfen. Allerdings ist die erste Form bereits verschwunden und ein nächstes Nachbild erscheint und bewegt sich. Um nun dieses Nachbild aufzunehmen, versuche ich, die vorherige Zeichnung zu löschen und das neue.

Wieder schließe ich meine Augen und prüfe die Form des Nachbildes. Wie erwartet, ist nun dieses Nachbild verschwunden und ein neues entstanden. Die Zeichnung des vorherigen Nachbildes lösche ich wieder, da es nicht mehr besteht.

Ich nehme wieder mit meinen geöffneten Augen die Welt und ihre Objekte wahr und mit geschlossenen Augen wieder deren Nachbilder. Und wieder zeichne ich mit geöffneten Augen, die erinnerte Form des Nachbildes, die ich gleich darauf wieder lösche.

Ein neues Blatt …

Die Zeichnung wird nicht nach der Anschauung gezeichnet, sondern aus der Erinnerung. Wenn ich, nach dem bereits eingeprägten Nachbild ein Bild zeichne, wird das Vorbild automatisch unsichtbar. Auch wenn ich verzweifelt ein präsentes Sehen untersuche, schneide ich mich genau hierdurch von der visuellen Anschaulichkeit ab.

Ich bin blind, während meine Augen offen sind. Ich kann sehen, während meine Augen geschlossen sind. Ich sehe, erinnere, zeichne und lösche immer wieder, um unbestimmte Nachbilder einzufangen und zu fixieren. Dieser Prozess erzeugt eine wahrnehmbare Bewegung der Bildentstehung.

Wenn in einem Moment viele Bilder vorbeifließen, nimmt man sie durch den Nachbildeffekt als bewegtes Bild wahr.

Mein Zeichnen teilt sich in einzelne Blätter - wie Sequenzen eines bewegten Bildes, wie ein Video, das aus einzelnen Bildern besteht.

Die auf Transparentpapier aufgezeichneten Bewegungen bilden, Schicht für Schicht, ein Bild. Dieses Bild ist für sich allein ein unbewegtes Bild. Doch die einzelnen Lagen bilden trotzdem eine Bewegung ab. Die zu einem einzigen Bild verdichteten Momente - die Spuren physisch überlappender Handlungen - erzeugen im Bild einen eigenen Raum.

Text: Seokjin Hong
Redaktion: Rita Eschle